Aktuelles

Willkommen in der digitalen Welt. Teil I.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe, 27.07.2024
Weiterlesen

Mein 18-jähriger Sohn lümmelt wieder mal auf der Couch, spielt wieder mal mit dem Handy. Grantig weise ich ihn darauf hin, dass er ja morgen seine theoretische Führerscheinprüfung habe und es wohl klüger wäre, nochmals die Unterlagen zu studieren. Er meinte süffisant: „Aber Papa, ich lerne ja auf den Führerschein, ich trainiere die Fragen auf einer APP“. Tatsächlich. Auf einem Foto sieht man eine Kreuzung, ein Auto kommt von rechts, ein anderes kommt von vorne, es werden Fragen gestellt, die mein Sohn dann beantwortet. Das ist echt cool. Die Botschaft ist für mich angekommen: wir sollten in der medizinischen Welt unsere Aus- und Fortbildungsaktivitäten aus dem didaktischen Mittelalter in das digitale Zeitalter katapultieren, um die kommende Generation der Ärzt:innen digital abholen zu können.

Als schon Endfünfziger habe ich im Studium die ersten Ausläufer von Multiple Choice erlebt. Damals haben wir noch dicke Bücher studiert, sind in den Hörsälen gesessen und haben uns passiv von Frontalvorträgen berieseln lassen. Lernunterlagen hat man in der Gruppenarbeit selbst produziert. Wissen war Macht! Deshalb war der Zugang zu Literatur oder Vortragsfolien kaum möglich. Mein erster Computer hatte praktisch keine Speicherkapazität, mit Floppy Disks habe ich Daten transportiert, Internet zuhause gab es nicht. Tragbare Telefone hatten Koffergröße und waren meist in Autos verbaut, man konnte sprechen, SMS oder andere Messenger Dienste waren nicht vorstellbar. Dafür musste ich meine Dissertation brav selbst tippen, Chat GPT hat mir nicht geholfen, vor Plagiatsjäger brauchte ich mich daher nicht zu fürchten.

In mehreren Reformschritten wurde das Lernen reformiert, auf den Universitäten wurde viele neue Lehrmethoden etabliert. Heute können wir Online auf unzählige Lern- und Lehrunterlagen zugreifen, die medizinische Weltliteratur steht uns über Google und Co zur Verfügung, wir bekommen in Kurzvideos verschiedene praktische Skills vermittelt, Kongresse können gemütlich zu Hause gestreamt werden. Die Jungmediziner schleppen nicht mehr dicke Klinikleitfäden in ausgebeulten Arztmänteln durch die Abteilung, dafür hat jeder sein eigenes Handy griffbereit, um jederzeit eine APP aufrufen zu können, um das Wissen zu optimieren.

Die grenzenlose Verfügbarkeit des Wissens führt eher zur Ohnmacht. Wie sollen wir mit der Fülle der Information umgehen, wie können wir diese gewichten, wie können wir letztlich auch Entscheidungen treffen, Kompromisse zulassen?